Blog - Auf dem Schreibtisch

Es ist Juli. Noch knapp zwei Wochen bis zur Sommerpause. Eine so erfolgreiche wie anstrengende Spielzeit neigt sich dem Ende zu. Allein in unserer Sparte, dem Jungen Theater, haben wir 120 Vorstellungen für junges Publikum gespielt! Der bevorstehende Urlaub ist also redlich verdient… Jetzt noch schnell Lesestoff einpacken! Beim Blick übers Bücherregal fällt mir ein besonderes Buch ins Auge. Der Name auf dem Buchrücken weckt gleich Erinnerungen an Sommerferien der Kindheit, angefüllt von Abenteuern mit liebgewonnenen literarischen Freunden und Freundinnen. Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Ronja Räubertochter, Karlsson vom Dach oder Kalle Blomquist… Generationen von Menschen sind mit diesen und den zahlreichen anderen von der Autorin Astrid Lindgren geschaffenen Figuren aufgewachsen. Liebenswerten, verrückten, bunten und unangepassten Charakteren, deren Abenteuer Plädoyers für Individualität, Lebensfreude, Mut, Hoffnung und Liebe sind. Damit stehen sie quasi im größtmöglichen Kontrast zum dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts, dem zweiten Weltkrieg.

Seit Ausbruch des Krieges im September 1939, beobachtete Astrid Lindgren, zunehmend entsetzt und fassungslos, das Geschehen um das neutrale Schweden herum und hielt ihre Gedanken, Ängste und Beobachtungen im Tagebuch fest. Sie schildert, wie Europa von Faschismus, Rassismus und Gewalt vergiftet wird und stellt sich Fragen, die leider auch heute erschreckend aktuell sind: Was ist gut und was ist böse? Was tun, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus das Denken und Handeln der Menschen bestimmen? Wie kann jeder Einzelne von uns Stellung beziehen?

Daneben gewähren Ihre Tagebücher aber auch einen Einblick in ihr Familienleben und den Beginn ihres literarischen Schaffens: 1944 schenkte sie ihrer Tochter das Manuskript von Pippi Langstrumpf zum Geburtstag.

Ein eindringliches Zeitdokument und ein sehr persönlicher Einblick in das Leben einer weitsichtigen, klugen Frau, die zu einer der erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen werden sollte.

Zugegeben, das ist nicht die typische Urlaubslektüre. Aber dieser Sommer ist auch kein Typischer. Und wie August Bebel sagte: »Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten«.

Jörg Neubauer

Astrid Lindgren
DIE MENSCHHEIT HAT DEN VERSTAND VERLOREN
Tagebücher 1939-1945

Erschienen 2015 bei Ullstein Buchverlage, Berlin.