Blog - Hinter den Kulissen

Besuch beim Ballett TN LOS!

Für nächste Woche plane ich mal einen Besuch beim Ballett, im Hüpedenweg in Niedersalza. Dann merke ich, dass die Tage der kommenden Woche immer voller werden mit anderen Dingen, die auf dem Schreibtisch liegen. Wieder nichts. Na, die Tänzerinnen und Tänzer sind ja dann zu den »Requiem«-Proben in der St.-Blasii-Kirche denke ich mir. Dahin gehe ich natürlich, es ist ja bald Premiere. Zu Fuß laufe ich vom Theater keine fünf Minuten dorthin. Am 27. September ist die erste Probe in der Kirche, im bereits aufgebauten Bühnenbild. Die Compagnie trainiert in Trainingsanzügen den 3. Satz des neuen Balletts von Ivan Alboresi. Das Stück ist schon fast fertig choreografiert, es fehlt nur noch der Schluss. Noch zweieinhalb Wochen bis zur Premiere ….

Bis zu dieser ersten Probe in der Kirche hat die Compagnie an ihrem Probenort gearbeitet, in einem Haus in Niedersalza, gegenüber der Grundschule. Hier haben sie viel Platz: Es gibt einen großen hellen Raum mit großen Spiegeln, Stangen, einer Lautsprecheranlage, einem Flügel. Um in diesen Saal zu gelangen, geht man zunächst durch eine gemütliche, komplett eingerichtete Küche mit einem großen Tisch, den Aufenthalts- und Pausenraum.

Eine Woche nach der sehr bewegenden und intensiven Uraufführung von Ivan Alboresis Ballett »Ein deutsches Requiem« habe ich etwas Luft und besuche die Compagnie dort in Niedersalza; ich möchte mal einen ganz normalen Probenalltag mitbekommen. Dieser beginnt – wie überhaupt auch die Proben für alle anderen Künstler*innen am Haus – morgens um 10.00 Uhr.

Im Moment steht die Wiederaufnahme von Ivan Alboresis Ballett »Winterreise oder Stationen eine Flucht« in Rudolstadt auf dem Plan. Die Premiere dort ist zwar erst im Januar 2023, aber da die Choreografie angepasst werden soll an die neuen Verhältnisse im Stadthaus, braucht es etwas Zeit. Und der Ballettdirektor fängt ja zeitgleich auch schon mit dem nächsten neuen Ballett an, mit Strawinskys »Feuervogel«, auch Adriana Mortelliti beginnt mit der Choreografie für die Operette »Die lustige Witwe«.

 

Aber bevor es am Vormittag an die »Winterreise« geht, gibt es ein 90-minütiges Training. Normalerweise liegt dies in den Händen von Ilka von Häfen, der Ballettmeisterin und choreografischen Assistentin des Nordhäuser Ballettdirektors. Doch da sie derzeit erkrankt ist, übernimmt er das heute selbst. Ob er es gerne macht, frage ich Ivan. Er lacht und sagt »Ja!«. Auf der großen Bühne des Theaters habe ich schon oft mitbekommen, wenn die Tänzer*innen vor der Probe ein Training durchführen. Aber bewusst miterlebt habe ich es bisher nicht, das tue ich an diesem Vormittag in Niedersalza.

Sie stehen zunächst an der Stange, Ivan gibt Anweisungen, zeigt eine Bewegungsabfolge der Füße, »one, two, three, four, five, six, seven, eight« höre ich an dem Vormittag immer wieder, ebenso »Plie«. Die Tänzer*innen folgen ihm, bewegen die Arme, strecken die Beine in alle Richtungen. Ivan kommentiert, korrigiert. Dazu erklingt Musik live am Klavier, gespielt von Nivia Hillerin-Filges. Auf sie komme ich gleich noch zu sprechen. Später werden die Stangen weggeschoben. Jetzt wird der ganze Raum für größere Bewegungen genutzt: weite Sprünge, Pirouetten. Ich mache mir heute zum ersten Mal bewusst, dass all das, was ich da sehe, die (technischen) Grundlagen sind, die die Tänzer*innen jeden Tag trainieren: Bewegungen und Formationen des klassischen Balletts, zu dem – als kleines Detail – eben auch das »Plie« gehört, die Kniebeuge. Ivan korrigiert die Fußstellungen, die Haltung des Oberkörpers, die Handbewegung. Alles soll leicht und schön aussehen, auch wenn es noch so anspruchsvoll ist. Die Klaviermusik ist als Begleitung von Nivia immer dabei. Sie improvisiert alles und das immer wieder neu. Dabei weiß sie genau, ob sie einen 3er- oder 4er-Rhythmus, ob sie langsam oder schnell spielen soll. Sie beobachtet das, was Ivan, was die Tänzer*innen machen, und reagiert prompt darauf. Seit 30 Jahren macht sie diese Arbeit mit dem Ballett und hat für die Tänzer*innen ein unglaubliches Gespür.

Von dieser Grundlage aus geht es in den modernen Tanz der »Winterreise«. Doch vorher ist eine Pause angesagt. In diesem Fall hält sie einen kleinen Schrecken bereit. Denn einer der Tänzer, dessen Fehlen ich beim Training schon bemerkt hatte, erscheint – mit einem bandagierten Bein. Er hat sich bei der letzten Vorstellung des »Requiems« verletzt. Jetzt ist er krankgeschrieben. Seine Kolleg*innen stehen um ihn herum, sie reden zugewandt mit ihm, der noch ein paar Kekse und Süßigkeiten auf den Küchentisch stellt.

Teil 2 des Vormittags dann: »Winterreise«. Ivan hat seinen Laptop auf einen Tisch gestellt, die Tänzer*innen um ihn herum schauen sich einen Ausschnitt aus einem Probenmittschnitt an. Dann probieren sie Bewegungen aus, versuchen sie zu verstehen, wiederholen sie. Das Durchzählen der Bewegungen (»one, two, three, four, …«) hilft ihnen, diese ins Gedächtnis und in den Körper zu bekommen. Innerhalb kurzer Zeit haben sie eine ganze Nummer aus der »Winterreise« (das Lied »Auf dem Flusse«) wieder angelegt. Hier muss jetzt natürlich noch gefeilt, ausgebessert werden. Schon bei diesem vergleichsweise kurzen Abschnitt beeindruckt mich die Gedächtnisleistung der Tänzer*innen, wie schnell sie es schaffen, die gesehenen und gezeigten Bewegungen abzurufen. Aber natürlich ist das jahrelanges Training.

Nach insgesamt vier Stunden Arbeit ist um 14.00 Uhr eine längere Pause angesagt. Jetzt ist Mittagszeit. Die Tänzer*innen setzen sich zusammen an den Küchentisch, jede*r hat etwas zum Essen dabei. Es wirkt alles sehr entspannt, freundlich, ausgelassen. Um 15.00 Uhr geht es weiter mit der »Winterreise«, und ich fahre zurück ins Theater an meinen Schreibtisch. Mein Arbeitsplatz könnte von dem der tanzen Kolleg*innen verschiedener kaum sein. Körperliche Bewegung geht gegen Null, zwar arbeite ich auch im Team mit anderen Kolleg*innen, was sinnstiftend und sehr erfüllend ist. Doch ist das immer noch etwas ganz anderes als das intensive Miteinander der Tänzer*innen, die nahezu jeden Tag sieben Stunden Zeit zusammen verbringen und sehr aufeinander angewiesen sind. Und ihre Kunst liegt vollkommen jenseits von meinen eigenen Fähigkeiten: Sie ist ein anspruchsvoller und komplexer Hochleistungssport, der so leicht daherzukommen scheint, staunen macht und die Emotionen berührt. Sie verdient meinen allerhöchsten Respekt!

Dr. Juliane Hirschmann

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