Blog - Im Gespräch mit...
SAMT, PELZ UND MUFF
Wie die Kostümbildnerin Anja Schulz-Hentrich 333 Kostüme für das Musical »Doktor Schiwago« geschaffen hat und für die Vorstellungen koordiniert
Im Gespräch mit Chefdramaturgin Juliane Hirschmann gibt die Ausstatterin Anja Schulz-Hentrich Einblicke in eine ebenso herausfordernde wie schöne Arbeit für diese große Produktion.
Wie viele Kostüme hast du für wie viele Darsteller*innen in »Doktor Schiwago«?
Wir haben 80 Darsteller*innen und grob überschlagen 333 Kostüme: für Herrensoli, Damensoli, Herrenchor und Herrenextrachor, Damenchor plus Damenextrachor, für Damen- und Herrenballett, für die Jungs vom Jugendclub unseres Theaters, den Kinderchor und die Kindersolisten, für einen Statisten und außerdem vier Kollegen der Technik, die für offene Umbauten auf der Bühne sein werden.
Es gibt ja aber nicht nur die Kostüme an sich, Hose, Rock, Hemd, Jacket usw., …
Ja, es gehört natürlich noch das ganze Beiwerk für jedes Kostüm dazu, Gürtel, Hut, Schmuck, Schuhe, das muss auch alles sein und erzählt manchmal noch viel mehr, als das eigentliche Kostüm. Was natürlich auch sehr wichtig ist, ist die Maske, also Frisur, Haare, Make-up, was auch nochmal ganz viel am Menschen verändern kann.
Bei den Mengen habt ihr ja sicherlich nicht alles selbst genäht. Was habt ihr gekauft? Was selbst hergestellt? Was umgearbeitet?
Ich konnte ganz gut auf unseren Fundus zugreichen, vor allem, was die Mäntel betrifft, schwarze Mäntel für die Beerdigung am Beginn des Musicals zum Beispiel. Es war für mich eine große Erleichterung, dass unser Fundus da ziemlich viel hergibt. Manches habe ich auch gekauft. Einen Mantel anzufertigen wäre sehr aufwendig.
Wir haben aber auch genäht, gerade die beiden Damen Yuval Oren und Eve Rades tragen Kostüme, die zum großen Teil Anfertigungen nach meinen Entwürfen sind. Bei Marian Kalus konnte ich einiges aus dem Fundus verwenden. Wir haben aber ja auch den kleinen Juri. Der erwachsene Juri trägt am Anfang einen braunen Mantel, und da fand ich es schön, wenn das Kind, das kurz zuvor auftritt, das gleiche Material trägt. Daher habe ich dem Jungen einen Anzug aus dem gleichen Stoff machen lassen, aber in Details anders. Der kleine Juri hat beispielsweise keine lange, sondern eine Kniebundhose, so wie ich das auf historischen Bildern um 1903 gesehen habe. Ich habe ja recherchiert, was sie damals getragen haben. Die Jacke bei dem Kind ist zum Beispiel noch eine zweireihige Jacke, bei Marian Kalus, den wir als Juri erst ab dem Jahr 1913 sehen, ist es eben ein Einreiher. So schauen wir auch auf die Historie.
Der Zeitraum unserer Geschichte – die Jahre zwischen 1903 und 1930 – hat dich und den Regisseuren Benjamin Prins also sehr inspiriert?
Unser Konzept ist ganz einfach: Wir wollten es ganz klassisch machen, die Kostüme in der Zeit ansiedeln, in der unsere Geschichte spielt. Von daher war ganz klar: Ich habe mich belesen, recherchiert, wie die Schnitte der Kleider, Anzüge, Mäntel waren, wie der Kopfputz, die Frisuren aussahen. Es ist ja so einfach, sich heutzutage damit zu beschäftigen. Ich habe dann gedacht, Ideen entwickelt, Benjamin Prins Bildmaterial gezeigt; wir lagen auf einer Wellenlänge, und so habe ich die Ideen dann ausgeführt. Das Ganze ist sehr komplex, da du ja in den Kostümen eine ganze Gesellschaft, auch in ihrem Wandel abbildest, mit allen Gesellschaftsschichten, Alters-, Berufsgruppen usw. Das war ja auch die Herausforderung, dass wir uns in einem Zeitraum von fast 30 Jahren bewegen. Die größte Aufgabe dabei war die Logistik und die Planung, zu überlegen: Wie schaff ich das alles? Ich habe ja nur acht Schneiderinnen, das müssen die in der verfügbaren Zeit alles stemmen können.
Wann hast du dann begonnen, die Kostüme zu entwickeln?
Wir, also der Regisseur und ich, haben uns im Februar die ersten Male getroffen und zusammen den Film von 1965 mit Omar Scharif geschaut. Da habe ich dann schon gesehen, was mir nicht gefällt, was ich anders haben möchte, aber es gab auch vieles, das mich inspiriert hat.
Was ist bei alledem für dich die größte Herausforderung?
Organisation und Logistik! Mit der Logistik habe ich begonnen. Anhand des Textbuches konnte ich sehen, wer in welcher Szene auftritt. Dann habe ich das Szenario in einer Exzell-Tabelle erstellt (siehe dazu das Foto auf dieser Blog-Seite): Hier kann man sehen, wer wann wo auftritt und was man alles braucht. Zunächst habe ich das nur grob gemacht: Hier benötigen sie Mäntel, dort ein Kleid, ohne jedoch erstmal ins Detail zu gehen. In meiner Übersicht sieht man auch, wann sich der Darsteller bzw. die Darstellerin für was umziehen muss. An manchen Stellen muss ich mit Benjamin Prins sprechen, denn es kann ja sein, dass er über das eigentliche Szenario hinaus plant, dass er bzw. sie vorher nochmal irgendwo um die Ecke schaut. Gibt es in dem Fall noch genug Umzugszeit? In den Spalten sieht man genau, wer wann wie viel Zeit zum Umziehen hat. Das ist auch für die Ankleiderinnen, die in den Vorstellungen beim Umziehen helfen, wichtig zu wissen.
Meine Exzell-Tabelle ist auch die Grundlage, mit der ich die Übergabe für die Ankleiderinnen mache, die den Künstlerkolleg*innen hinter der Bühne helfen, manchmal innerhalb von kürzester Zeit die Kostüme zu wechseln. Eve Rades trägt zunächst den Rock, den nächsten Umzug macht sie selbst für einen Schal und den Muff, der nächste Umzug erfolgt für den Studentenclub, dann kommt das Nachthemd, darüber zieht sie den Mantel, usw. Bei schnellen Kostümen kann ich keine großen Dinge denken, die ich gar nicht umsetzen kann, weil die Zeit einfach nicht da ist.
Auf meinen Figurinen, also den gezeichneten Kostümentwürfen, ist erkennbar, wie viele Kostüme ein*e Darsteller*in hat, Eve Rades etwa hat 11, wobei sie zum Teil mehrere Sachen übereinander trägt, die sie dann einfach nach und nach ablegen kann, zum Beispiel am Schluss im »Eispalast«.
Meine Figurinen sind auch hilfreich für die Ankleiderinnen, denn darin können sie sehen, wie ich das Kostüm einrichte, wie es getragen werden soll. Bei den Bauernszenen etwa wollte ich die Ärmel hochgekrempelt.
Mit den Ankleiderinnen wird dann auch besprochen, wo sich die Darsteller*innen in den Vorstellungen umziehen, es muss ja alles nah beieinander sein. Jede*r Darsteller*in bekommt eine eigene Ankleiderinnen zugeordnet, die weiß, dass es schnell gehen muss. Das alles ist eine ganz technische, sachliche Organisation.
… die dann unerlässlich ist für viele helfende Hände hinter der Bühne.
Das Gute ist ja, dass ich 80 Leute im Kopf habe, das dann aber abgeben kann und auch muss und sagen kann: 12 Leute Herrenchor gebe ich an Anja Matzelle, 13 Leute Damenchor an Ines Schöffl usw. Für die Schlossfestspiele habe ich über unsere eigenen vier Ankleiderinnen hinaus fünf weitere zur Unterstützung. Denn es gibt ja noch das Ballett, die Jungs vom Jugendclub, bei denen es auch sehr schnell geht: Sie demonstrieren, sind Studenten, werden Soldaten. Das können sie nicht alleine, es muss jemand da sein, der ihnen hilft und auch alles wieder ordentlich wegsortiert, sonst fliegt ja nur noch alles rum und alle laufen über die Kostüme. Das eine muss hingehängt, das nächste rausgehängt werden. Wir haben gar nicht den Platz, alles schon bereitzulegen.
Die Proben mit Kostümen und Maske sind superwichtig, für die Darsteller*innen natürlich, damit sie die ganzen Umzüge ausprobieren, für die Ankleiderinnen, die ihnen helfen, aber natürlich auch für dich.
In den ersten Proben mit Kostümen schaue ich nur auf die Kostüme. Bei der Premiere sehe ich das Stück meistens zum ersten Mal nicht nur in den Augen der Kostümbildnerin, nehme viele andere Dinge bewusst wahr. Aber selbst da sehe ich natürlich immer noch was, und danke: »Mensch, da stimmt doch wieder was nicht. Da muss ich nachher nochmal nach hinten gehen. Da war ja der Gürtel falsch, die Strähne nicht schön.« Zu viele Kompromisse will ich dann ja auch nicht eingehen, wenn ich es mir alles schonmal so schön ausgedacht habe. Aber wir sind natürlich alle keine Maschinen, sind nicht unfehlbar.
Welches Kostüm hat dir für »Doktor Schiwago« am meisten Spaß gemacht?
Das kann ich gar nicht sagen. Die Anproben mit jedem Einzelnen waren wirklich schön, wir hatten da große Freude. Wir haben manchmal noch zusammen überlegt, manche Anprobe dauerte da schon zwei Stunden. Ich weiß ja nicht immer, dass ein Darsteller, eine Darstellerin auf der Szene noch dies oder jenes macht. Ein Lieblingskostüm hab’ ich gar nicht. Die Kostüme sind ja auch so unterschiedlich: Tonia kommt aus einer gutbürgerlichen Familie, Lara aus der Arbeiterschafft, aber ihr schlichtes Kostüm ist auf seine Art in seiner Klarheit genauso schön wie das von Tonia mit Samt, Pelz und Muff. Toll ist, wenn ich genau das gefunden habe, was für die jeweilige Figur passend und schlüssig ist. Auch an den Bauernkindern, den Bäuerinnen hatte ich meine Freude; aus Lumpen, alten Röcken, Blusen, Kopftüchern etwas zu machen ist genauso spannend wie das Ballkleid von Mutter Gromeko. Alles hat immer seinen eigenen Reiz.
Foto (v. l. n.r.): Anja Schulz-Hentrich (Kostümbildnerin), Carolin Flucke (Assistentin Ausstattung), Kati Herzberg, Angela Kretschmar (Gewandmeisterinnen)